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Fotografieren

1   Fotografieren

 

Das Fotografieren begleitet mich seit vielen Jahren. Es hat mein Sehen verändert, meinen Sinn auf das Schöne gerichtet. 

Eine Herausforderung sind die mächtigen Vorbilder. Sie sind immer da, lauern in allen unausweichlichen Aspekten des Fotografierens: Motiv, Komposition, Licht, Farbe, Schärfe, Kontrast. Und sie sind den Moden unterworfen. Propagiert und verbreitet werden sie von Weltkonzernen wie Apple oder Samsung, die den öffentlichen Raum mit grossformatigen Fotos bebildern, ebenso wie von professionellen Fotografen und Künstlern, die ihre Werke in Museen zeigen.

Den nackten Blick gibt es nicht. Sehen ist immer geprägt. Trotzdem finde ich – vor allem in der Malerei – Bilder, deren Schönheit ausschliesslich in der Nebensächlichkeit des Sujets und dem handwerklichen Können des Malers zu liegen scheint. Ein Bild aus der Sammlung Reinhart im Römerholz begleitet mich seit Jahren: Tres rodajas de salmón. Meine Möglichkeiten berühren nicht einmal die Sphären, in denen sich Goya bewegt, trotzdem – oder gerade deshalb – erlaube ich mir, am Beispiel dieses Bildes zu erläutern, was mich beim Fotografieren fasziniert.

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Francisco de Goya, Tres rodajas de salmón

 

Goya hat vor zweihundert Jahren drei Lachsscheiben gemalt. Sie liegen auf einem hellen Tuch, das vorne über eine Tischkante fällt. Auf dem Gemälde ist sonst nichts zu sehen. Kein Teller. Kein Messer. Keine Zitrone. Kein Glas. Keine Flasche. Nichts. Natürlich begeistert die Malerei: der Hell-Dunkel-Kontrast, der die gesamte mögliche Spannung nutzt, der Farbauftrag, der grosszügig Licht, Schatten, Glanz, Stumpfheit setzt, die grossartige Komposition, die dichte geometrische Anordnung der Körper, die beiläufig scheint. Alles ist klar. Das Bild ist nackt. Radikal. 

Es ist Goyas Blick, der mich bannt, sein Entscheid, sein malerisches Können auf diese drei Tranchen anzuwenden, auf dieses nebensächliche, alltägliche Motiv. Goya hat es gesehen. Er zeigt aber nicht die drei Lachsschnitten, sondern ein Abbild von Lachsschnitten, ein Bild, das malerisch weit über den Gegenstand hinausweist. Ohne seinen Blick sind die Tranchen bloss aufgeschichtet. Ohne sein Können, ohne seinen Sinn für Formen, Komposition, Farben, Hell-Dunkel-Kontraste bliebe das Stillleben stumm. Goya erst stellt die Schönheit her. Sie bleibt ganz im Werk, wo sie Zeit und Moden überdauert.

Schönheit lässt sich nicht eindeutig fassen. Sie bleibt offen. Sie bietet aber beschreibbare formale Merkmale, durch die hindurch sie als Möglichkeit aufscheint: Linien, Flächen, Körper, Raum, Komposition, Farben, Formen, Licht. Dieses Angebot macht sie nicht nur dem Künstler, sondern allen. Auch Kinder sind dafür empfänglich, wenn man ihnen das Fenster aufstösst, wenn man ihnen den Himmel in der Pfütze zeigt.

Das Fotografieren hat mein Sehen verändert, meinen Sinn auf das Schöne gerichtet. Beim Sichten des umfangreichen Materials habe ich mich gefragt: Was hat jeweils den Impuls ausgelöst, den Fotoapparat hervorzuholen, auf den Auslöser zu drücken? Immer habe ich etwas gesehen, das sich als Chance für ein Bild anbot: eine kompositorische Möglichkeit, ein Farbspiel, Gegenlicht, ein Hell-Dunkel-Kontrast, ein Liniengewirr, eine räumliche Situation.

Mit dem Fotoapparat habe ich die Möglichkeit, aus dem Fluss des Sehens ein Bild auszuschneiden. Um die Verbindlichkeit im Moment des Fotografierens zu erhöhen, bearbeite ich die Bilder nie nach. Wenn sie mich nicht überzeugen, lösche ich sie. Für das Quadrat habe ich mich vor einigen Jahren entschieden. Es macht als Format den Akt des Ausschneidens besonders deutlich, ist hochgradig bestimmt, verweist immer auf sich selbst. Schon bevor ich den Apparat aus der Tasche hole.

 

 

 

 

 

2.1   Bilder lesen

Bilder

Bilder. Wir sehen sie, schauen sie an. Sie scheinen aussen, vor unseren Augen. In Wirklichkeit entstehen sie im Kopf. Sie fallen auf die Netzhaut und damit in ein System komplexer Wechselwirkungen von Erinnerungen, Erfahrungen, Gefühlen, Wissen. Erst jetzt sehen wir, können über das reine Registrieren hinaus etwas erkennen.

 

Martin Walser schreibt in 'Vormittag eines Schriftstellers': Die Sätze, die ich lese, leben davon, dass sie in mir beantwortet werden. Beantwortet durch Erfahrungen, die von diesen gelesenen Sätzen geweckt, mobilisiert, bewusst gemacht werden. Sehen ist nicht anders: Wir schaffen, was wir sehen. Die Bilder liegen nicht aussen, nicht vor unseren Augen, sie entstehen in uns, wenn wir lesen, was unsere Netzhaut empfängt.

 

Beim Bildersuchen findet der Blick aussen, was im Suchenden etwas bewegt. Dürer: Denn wahrhaftig steckt die Kunst in der Natur, wer sie heraus kann reissen, der hat sie. Franz Gertsch, konfrontiert mit der unermesslichen Vielfalt der Natur, findet seine Bilder rund um sein Haus. Ohne die Erfahrungen seines Lebens würde er sie nicht sehen. Und ohne die Erfahrungen unseres Lebens könnten wir später seine gemalten Bilder nicht lesen.

 

Die beiden Leseerfahrungen sind aber verschieden, sie decken sich nicht. Wenn sie sich allerdings im Wesentlichen nicht fänden, berührten sie uns nicht, blieben stumm. Denis Diderot: Malerei ist die Kunst, die Seele zu bewegen durch Vermittlung der Augen. Wenn der Maler nur bis zu den Augen kommt, hat er nur den halben Weg zurückgelegt.

 

Die Magie liegt nicht bloss im Blick des Malers, sondern auch im Auge des Betrachters. Und in der Unmittelbarkeit ihrer Wirkung. Bilder sprechen fast wie Musik.

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Markus Raetz, 1985

Ich sammle Bilder, seit Jahren. Meist mit der Kamera, manchmal aber auch in einem Notizheft. Diese Bilder entstehen aus der Sprache, beim Lesen. Ohne eigene Erinnerung könnte der Leser sie nicht sehen:

 

 

 

 

 

 

Amsel

In der Böschung über dem Fluss spreizt ein Haselstrauch seine Äste. Unten, wenig über dem Boden, sitzt eine dicke, kugelig aufgeplusterte, pechschwarze Amsel im Geäst. Darüber wölbt sich eine Kuppel voll goldener Blütenkätzchen, die den Raum des Strauches behangen bevor der Hasel in ihm Blätter treibt.

Bagnino

San Nicola. Der Bagnino sitzt den ganzen Tag auf einem dieser schrecklichen, weissen Plastikstühle, die sich über die ganze Welt verteilt haben und schaut auf sein Handy. Im Rücken die kleine Hütte, der Mast mit der aufgezogenen Fahne, vor ihm der Strand, praktisch leer. Geschlossene Schirme. Der Wind zerrt unablässig laut krachend an ihren Plastikhüllen. Das rote Rettungsfloss mit der Aufschrift Salvataggio steht weit oben im Sand. 

Buchenblätter

Auf dem Weg hüpfen und wirbeln dürre Buchenblätter durcheinander. Es scheint, als hätten sie eine helle und eine dunkle Seite, die sie schnell drehend abwechslungsweise zeigen. Ein Blatt dreht sich auf seinem Rand. Wie ein Rad. Die meisten springen, sich in stotterndem Rhythmus überschlagend, bis sie plötzlich liegen bleiben, als würden sie sich ducken, bevor sie der nächste Windstoss aufscheucht.

C

D

Eiskristalle

Nebel, Frost und Wind haben in der Nacht den Wald verzaubert. An jedem Ästchen, an jeder Tannennadel, entlang den von Spitze zu Spitze verlaufenden Blatträndern der Stechpalmen haben sie nadelförmige Eiskristalle gebildet. Der Schnee auf dem feinen, wirren, schwarzen Geäst des Unterholzes harrt als weisse Zeichnung vor der dunklen Tiefe des Waldes. Die glitzernden Wipfel stehen starr vor dem kalten Blau, das durch den dünnen Nebel scheint. Später, die Sonne blinkt von tausend Kristallen, fallen kleine Eisplättchen auf den gefrorenen Weg. Es tönt metallisch hart, als fielen Reissnägel aus dem Himmel.

Enten

Die Wasseroberfläche, leicht gerippelt, glänzt wie schwarzer Lack mit silbrigen Lichteinschlüssen. Von unten schwimmen zwei Enten flussaufwärts ins Bild. Ihre Wellen bringen die horizontale Ordnung ins Schwappen, treiben die Reflexe diagonal auseinander. Vorne schwimmt der Erpel, leicht seitlich mit wenig Abstand dahinter die Ente.

Farbteppich

Der Raum unter der Krone gehört dem Baum. In ihm blinken die fallenden Blätter, bevor sie sich zu einem Farbteppich niederlegen.

Feuerwerk

Dicht gedrängt wirft der Winterjasmin ein grosses Bündel langer, dunkelgrüner, drahtiger Äste in gespannten Bögen über die Kante der Mauer. Kleine, hellgelbe Blüten glühen an ihnen, aufgereiht wie Garben eines Feuerwerks.

Flocken

Gegen den hellen Himmel sind die Flocken dunkelgrau, die grossen dunkler, die kleinen heller. Auch winzige, verschwindend kleine Flocken sind dabei. Sie alle taumeln in einem Raum von unendlicher Tiefe.

Fluss

Morgen. Die Limmat im Gegenlicht. Sie schiebt sich breit und lautlos durchs Tal. An der Oberfläche fliesst das Wasser in verspielten Verschränkungen der glitzernden Reflexe und wechselnden Licht- und Schattenflächen durcheinander. 

Frühlingsboten

In der Nacht hat es geschneit. Die weite Landschaft über dem gefrorenen See dehnt sich weiss bis an den Horizont. Der Weg führt durch das winterliche Moor, in dem verstreut einzelne Holzschuppen stehen, häufig ohne Fenster, mit Satteldach. Meist wächst direkt neben dem Haus ein Baum, der das Dach bei weitem überragt. Aus der Entfernung sehe ich schon die feinen Ästchen, die silbrig leuchten. Der Raureif, der sich über Nacht an ihnen gebildet hat, glitzert und funkelt vor dem tiefblauen Himmel. Aus der Nähe dann die Überraschung: An den Ästen glänzt kein Raureif. Unzählige Weidenkätzchen haben sich aus ihren Kapseln befreit. Frühlingsboten.

G

Herbst

Herbst. In der frisch gemähten Wiese und auf dem trockenen Geröll des gegenüberliegenden Ufers hüpfen pickend Raben und staksen ruckelnd in alle Richtungen. Im Himmel ein lautes Krächzen anderer Raben. In der Ferne bellt ein Hund. Vom Weg in schneller Folge das krachende Geräusch feinen Kieses, das unter den groben Profilreifen der Bikes davonspritzt. Eine Motorsäge stottert und heult hell im Wäldchen hinter dem Fussweg.

I

J

Konfetti

Auf dem Uferweg in der Nähe der Schule liegen nach der Fasnacht, gleichmässig zwischen den Kieselsteinchen verteilt, so, als würden sie dazugehören, unzählige, rote, schon etwas verblichene Konfetti. Der Wind kann sie nicht mehr wegblasen, sie kleben auf dem zementenen Untergrund, der auch die Kiesel festhält. Die einen sind kreisrund, die anderen haben die Form eines Quadrates, bei dem auf jeder Seite, dort, wo die runden Formen ausgestanzt wurden, ein Segment fehlt. Vom nahen Schulhausplatz fröhlicher Pausenlärm.

Kuppeln

Der erste Schnee, der längst wieder geschmolzen ist, hat im Schrebergarten alles niedergedrückt. Die Sonne steht tief, ihr Licht streift über den Boden ohne ihn zu berühren. Nur die Oberflächen der grossen Salatblätter, die wie flache Kuppeln daliegen, gleissen weiss.  

Lärchen

Val Roseg. Die Sonne steht noch hinter dem Berg. Trotzdem leuchtet in den Lärchen vor dem schattigen Hintergrund ein Licht, das den Raum zwischen den goldfarbenen Nadeln füllt. Es leuchtet nach innen, bleibt im Baum.

Später brennen die Lärchen in der Abendsonne.

Limmat

Unten zieht die renaturierte Limmat, künstlich aufgeraut, um eine aufgeschüttete Kiesinsel, auf der ein hingelegter Baum zwar noch Blätter hat, aber schon vermodert. Darüber, am anderen Ufer, hinter einer Mauer, stösst ein Rasensprenger gehetzt unterbrochene Wassergarben in wiederkehrend gleicher Kreisbewegung über eine unsichtbare Rasenfläche. Dazwischen eine Mauer aus aufgeschichteten, bleichgelben Felsbrocken. Über dem bewaldeten Hügel im Hintergrund ein wolkenlos blauer Sommerhimmel, in dem mehrere Flugzeuge aufsteigen oder absinken. Düsenlärm entfernt aus anderer Richtung. Die kleinen weissen Flugzeuge gleiten tonlos und ohne Kondensstreifen durchs Blau.

Möwen

Bevor sie sich über die steile Wand in die Wasserwalze stürzt, fliesst die Limmat oberhalb des Wehrs langsamer, ruhiger. Der Fluss ist hier auch etwas breiter. Und voller Möwen. Jeweils einzeln fliegen sie aus dem Wasser auf, kurven in einem sanften Bogen über die andern weg und den Fluss hinauf, auf dem sie sich eben noch haben flussabwärts treiben lassen. Oben setzen sie sich erneut ins Wasser und lassen sich treiben, wie alle andern. Es sind bestimmt an die hundert, die sich hier versammelt haben. Sie paddeln alle flussaufwärts gegen den Strom, aber ohne Kraft, bloss, so scheint es, um das Hinabtreiben zu verzögern. Vor dem Wehr fliegen sie dann ohne ein Vorzeichen plötzlich wieder auf, drehen in einer weiten Kurve über das Wasser und die anderen hinweg bis ans Ende der Gruppe, wo sie sich erneut ins Wasser setzen und treiben lassen. Vor dem Landen richten sie den Körper noch im Fliegen etwas auf, strecken die Füsse nach vorn und bremsen mit einem Flattern ihren Flug. Kaum im Wasser falten sie die Flügel an den Körper. Die äussersten Federn überkreuzen sich hinten und stehen ab. Alle haben eine blütenweisse Brust, auch die Schwingen sind im Flug vorne weiss, dahinter häufig graubraun, mit einem schmalen, dunklen Rand. Einige haben einen weissen Kopf, in dem die schwarzen Augen wie Knöpfe glänzen, andere haben eine schwarze Färbung auf dem Schädel, die aussieht wie die enganliegenden Lederhauben nostalgischer Töfffahrer. Manchmal stösst eine der Möwen beim Auffliegen einen kurzen Schrei aus. Er verhallt aber immer ohne Antwort. Hin und wieder quakt eine Ente vom anderen Ufer.

N

Oleander

Zuerst leuchtet die letzte Blüte am Oleander. Nicht plötzlich, aber sie erglüht schnell. Alles andere auf dem Balkon liegt noch im Schatten, die lanzenförmigen dunkelgrünen Blätter mit dem hellen Strich als Rückgrat, der stumpfsilbrige Salbei, das Kraut des abgeblühten Lavendels, der glänzende Basilikum, der Thymian, der struppig in der dunkelsten Ecke steht, ein grosser Busch Rosmarin, die gefüllten rosaroten Rosen darüber, die, zu schwer für den dünnen Stängel, sich als volle Blüten nach vorne der Sonne zuneigen, die noch nicht für sie scheint. Nur die fünf weinroten Blätter der Oleanderblüte saugen sich mit Licht voll und bewerfen sich gegenseitig mit verschatteten Rottönen, während die Ränder der direkt beschienen Blätter in einer hauchdünnen, gleissenden Aura einen Teil des Lichts an die umgebende Luft abstrahlen. Wenig später streift das Licht die ersten ledrigen, grünen Blätter des Oleanders, zart und schwach, dann dringt es hell und kräftig in den auseinanderwachsenden Strauss der Äste.

P

Pflotschklumpen

Heute Morgen Pflotsch, Schneeregen und bissiger Wind. Auf der Kornhausbrücke spritzen die Pneus in weitem Bogen Sprühwellen bis aufs Trottoir. Dazu das lärmende laute Rauschen, das mit jedem Fahrzeug an- und wieder abschwillt. Auf dem Boden kleine, faustgrosse Pflotschklumpen. Nichts mehr erinnert an Schnee. Wasser, das als Körper daliegt. 

Q

Raum

Kein Schnee, aber gefrorener Boden. Heute schneit es seit langem wieder zum ersten Mal. Die weisse Decke bleibt liegen. Diffuses Licht leuchtet von überall, auch von unten. Unzählige Flocken füllen den Raum zwischen den gegenüberliegenden Hausfassaden.

Schwarm

Aus dem weiten Stoppelacker lösen sich wie auf Kommando mit Geschrei unzählige Möwen. Ihr Geflatter verdunkelt den milchigen Himmel, in dem sie sich in einer kreisenden Bewegung sammeln. Dann entfernt sich der Schwarm kreischend Richtung Limmat. In grosser Höhe segeln zwei Bussarde ohne Flügelschlag.

Sonnenstrahlen

Auf dem Weg viel Laub. Die Blätter, die aufstehen, leuchten schwach. Die Sonnenstrahlen enden in ihnen.

S

Tropfen

Frecciarossa nach Bologna. Bei der Ausfahrt in Mailand regnet es. Diagonale Wasserläufe am Fenster. Später, es hat aufgehört zu regnen, einzelne Tropfen auf der Scheibe, keiner hat Tropfenform, jeder eine andere. Wie kleine Inseln eines Archipels verteilt, wirken die Wasserinseln als Linsen, in denen sich die grosse Landschaft hundertfach winzig spiegelt, auf dem Kopf. Der Himmel glänzt in allen als heller Strich am unteren Rand. Plötzlich, mit einem Luftknall, der die Scheibe schlägt, der Zug in der Gegenrichtung. Lautes, rhythmisches Dröhnen der dicht aneinander vorbeirasenden Hochgeschwindigkeitszüge. Auf der Scheibe springt das Wasser von einer Insel zur nächsten, dann ist der Zug mit einem Schlag weg. Die Inseln glänzen wieder vor der verwischten Poebene im Hintergrund.

Unterland

Gegen Süden öffnet sich ein weites Land, sanft wellig, abfallend zunächst, dann ansteigend zum Wald, der hinter einer Dunstschicht schattig mit fein gezahnter Horizontlinie vor dem blassen Himmel steht. Im Osten bewaldete Hügelkuppen, eine hinter der anderen, seitlich verschoben, immer heller werdend bis sie sich auflösen vor der letzten Schicht. Berge, die die vorgelagerten Hügel nicht mehr berühren, sondern deren vereinzelte besonnte Schneefelder gedämpft aus dem wolkigen Dunst leuchten, der sich im Himmel über ihnen in flachliegenden Pinselstrichen auflöst. Entfernt das Grundrauschen einer Autobahn. Weit weg, aus dem Wald, das Heulen einer Kettensäge. Auch aus anderer Richtung eine Motorsäge, die sich würgend ins Holz frisst, beinahe abstirbt, wieder auf Touren gejagt wird. Im Leerlauf ein Tuckern und entspanntes Knattern, bevor die Säge erneut mit hellem lautem Geschrei in den Stamm getrieben wird.

V

Vogelzug

Unter der grauen Hochnebeldecke fliegen Vögel in immer neuen Gruppen Limmat aufwärts. Sie fliegen nicht hoch, vielleicht achtzig, hundert Meter, auf alle Fälle tiefer als der Getreidesilo hoch ist, an dem sie vorbeifliegen. Vorne ein Winkel, der sich in zwei ungleiche Schenkel öffnet. Dahinter, mit kleinem Abstand, eine Schlangenlinie, zu hinterst häufig ein einzelner Vogel oder zwei, die dazu gehören, sich aber haben zurückfallen lassen oder aufholen. Keine Hektik, aber Zugkraft im Ganzen.

Ware

Oberhalb der Kiesstrasse liegen, in einer sanften Mulde vor dem Waldrand, ein Dutzend Baumstämme. Alles ist Stein und Bein gefroren. Auf den Stämmen liegt weisser Raureif. Die Spuren des Ausastens sind als Farbinseln in den Rinden sichtbar, innen das helle Holz der Tanne, umgeben vom dunklen Braun der geschnittenen Rinde. Die Tannen waren gross, sicher zwanzig Meter hoch. 

Wie lange standen sie im Wald? Seit Anfang des letzten Jahrhunderts? Immer an derselben Stelle über dem Hochmoor. Nun liegen sie als Langholz da. Ware.

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Zerknitterung

Die roten Blüten, die die Dipladenia auf Tisch und Boden hat fallen lassen, sind verdorrt, in rostbrauner Zerknitterung erstarrt.

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Markus Raetz, 1987

Bildschirmschonerbilder

 

 

 

 

3   Bildschirmschoner

 

Bildschirmschoner verhindern, dass sich während längerer Arbeitspausen ein Bild in den Bildschirm einbrennt. Diese Gefahr bestand bei den bis in die frühen 1990er Jahre üblichen Röhrenbildschirmen. Bei den neuen Bildschirmen besteht sie nicht mehr.

 

Allen Programmen, so unterschiedlich sie sein mögen, war und ist eines gemein: Bewegung. Dank ihr konnten sich die Bilder auf dem Bildschirm nicht einbrennen. Auch wenn die Bewegung ihren ursprünglichen Sinn verloren hat, ist sie geblieben. Zur Unterhaltung, als fortdauernde Überraschung.

 

Bildschirmschoner sind in gewisser Weise das Gegenteil des klassischen Stilllebens. Der Begriff stil leven für ein Gemälde ist 1650 zum ersten Mal in einem holländischen Inventar zu finden. Wenige Jahre später taucht in einem deutschsprachigen Quellenwerk der Begriff stillstehende Sachen auf. Das Wort Stillleben, das sich an den holländischen Begriff stil leven anlehnt, erscheint erst Mitte des 18. Jahrhunderts. Im frühen 19. Jahrhundert hat sich der Begriff als Bezeichnung einer Gattung in verschiedenen Übersetzungen etabliert: stilleven, nature morte, natura morta, still life.

 

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Odilon Redon, Paprika und Zitrone

Malereien, in denen leblose Gegenstände Bild und Komposition bestimmen, gab es aber zu allen Zeiten und in allen Kulturen. Gegenstände der Natur und des alltäglichen Lebens wurden in ihrer Schönheit dargestellt. Als stillstehende Sachen. Der Künstler arrangierte sie so, wie er sie als Bild zeigen wollte. Unausweichlich stellten sich ihm dabei kompositorische Fragen, die den Bildraum betreffen, in dem die Sachen stillstehen. Ziel war es, die nature morte in einer kompositorischen Klarheit zu zeigen, in der der Blick Ruhe findet.

 

Auch jede Fotografie hält das Bild fest, auf das der Fotograf das Objektiv richtet. Bewegungen kommen im Bruchteil einer Sekunde zum Stillstand. Oder sie werden als Unschärfe fixiert. Fotografien wirken immer statisch, auch wenn sie Dynamik zeigen. In den 1970er Jahren hat der Dokumentarfilmer Ken Burns deshalb ein Verfahren erfunden, das es ihm erlaubte, in einem Film die Abfolge von Fotos so aneinanderzureihen, dass eine Bewegung entstand, eine ruhig fliessende Bewegung.

 

Ursprünglich wurde der nach Ken Burns benannte Effekt mit einer speziellen Filmkamera erzielt. Mit ihr konnte der Regisseur den Blick des Zuschauers lenken. Die Kamera zoomt z.B. auf ein Gesicht, dann schwenkt sie langsam auf ein zweites Motiv, während ein neues Foto langsam überblendet wird. Aus der gesteuerten Bewegung entsteht so ein erzählerisches Moment. Die alten Kameras sind mittlerweile nicht mehr in Gebrauch. Der Kern-Burns-Effekt wird heute von einer Software generiert, die alles kann, was die alten Kameras konnten. Und wesentlich mehr.

 

So ist es möglich, nicht nur die Bildfolge dem Zufallsprinzip zu überlassen, sondern auch die Bewegungen ins Bild hinein und aus dem Bild heraus, die Schwenks nach links und rechts, nach oben und nach unten. Die Chronologie des Erzählens weicht der Zufälligkeit der Abfolge. Beim Betrachten überlagern sich Bildstimmungen und Konnotationen. Überraschende Verwandtschaften scheinen auf und weichen anderen.

 

Ken Burns hat, als er das Verfahren für seine Dokumentarfilme erfunden und entwickelt hat, historische Schwarz-weiss-Fotografien verwendet, also Bilder, die Szenen mit Menschen, Maschinen, Häusern, Landschaften zeigen. Der Effekt erlaubt es, einzelne Aspekte zu vergrössern oder den Blick von einem Ausschnitt zu einem anderen wandern zu lassen. Die Komposition des Originalbildes wird dadurch allerdings aufgehoben, mindestens verändert.

 

Dies ist auch meine Beobachtung. Die unzähligen eigenen Fotos, die mir mein Bildschirmschoner zeigt, lassen sich in zwei Bildsorten unterscheiden: In jene Bilder, die nach den klassischen Kriterien der Kompositionslehre aufgenommen wurden und in jene, bei denen diese Kriterien nur eine sehr untergeordnete Rolle spielen. Wenn überhaupt. Diese zweite Bildsorte bekommt durch die Bewegung des Schoners eine neue Qualität.

 

Ich habe deshalb begonnen, mit Bedacht Bilder zu fotografieren, die durch den Rahmen des Bildschirms nicht eingegrenzt werden, sondern sich im Gegenteil über ihn hinausdehnen. Der Schoner öffnet dann in der Bewegung ein weites Feld. Es ist im Bild schon angelegt. Besser: schon im Blick des Fotografen. Der kompositorische Anspruch wird von der Faszination für Strukturen, Farbverläufe, Licht- und Schattenspiele überblendet. Die Bewegung hebt die Komposition nicht auf, sondern weitet sie.

 

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